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22.04.2020

Informatiklösungen zur Erfassung des Pflegebedarfs

Kostentreibende Ungleichbehandlung

Zur Ermittlung des Pflegebedarfs kommen in Schweizer Pflegeheimen derzeit drei verschiedene Informatiklösungen zum Einsatz. Dies sorgt für eine Ungleichbehandlung der Patienten und verursacht unbegründete Mehrkosten zulasten der Prämienzahlenden. Eine Vereinheitlichung tut not.

Die Schweizer Bevölkerung wird stetig älter. Mit der Konsequenz, dass die Nachfrage nach Pflegeleistungen zu Hause oder in einem Pflegeheim kontinuierlich steigt. So haben sich die Kosten für Pflegeleistungen in Heimen – zulasten der Grundversicherung – seit 2011 um 21 Prozent erhöht und belaufen sich derzeit auf knapp vier Milliarden Franken jährlich. Noch rasanter angestiegen ist der Pflegebedarf in den eigenen vier Wänden: Dieser hat seit 2011 um beinahe 70 Prozent zugenommen, wobei das Kostenvolumen mit 1,5 Milliarden Franken pro Jahr allerdings noch weit hinter demjenigen der Pflegeheime liegt (Grafik 1).

33 Millionen Pflegetage in Heimen

In der Schweiz gibt es derzeit rund 1600 Pflegeheime für Menschen, die ihren Alltag zu Hause – auch mit Unterstützung – nicht mehr selber bewerkstelligen können. In diesen Institutionen werden pro Jahr beinahe 33 Millionen Pflegetage geleistet, an rund 90 000 Klientinnen und Klienten. Die Pflege wird in der Schweiz durch die Krankenversicherer, die öffentliche Hand sowie die betroffenen Patienten finanziert. Dabei sind die Leistungen klar definiert: KVG-pflichtige Pflege umfasst Abklärung, Beratung und Koordination, Massnahmen der Untersuchung und Behandlung sowie Massnahmen der Grundpflege, immer unter der Voraussetzung, dass diese ärztlich angeordnet sind.

Gleicher Pflegebedarf, unterschiedliche Einstufung?

Die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) leistet an die KVG-pflichtige Pflege im Pflegeheim einen Beitrag pro Tag, in Abhängigkeit der für den Patienten aufgewendeten Zeit. Die Einteilung erfolgt in eine von zwölf Pflegestufen. Stufe 1 steht für einen Pflegebedarf bis maximal 20 Minuten täglich und wird mit Fr. 9.60 vergütet, Stufe 12 entspricht einen Bedarf von mehr als 220 Minuten pro Tag und kann mit Fr. 115.20 in Rechnung gestellt werden. Zur Ermittlung der Pflegebedarfsstufe sind in Schweizer Pflegeheimen drei verschiedene Informatiklösungen im Einsatz: BESA, RAIRUG sowie PLAISIR (siehe Kasten). Welche Systeme in den Institutionen zum Einsatz kommen, bestimmen die jeweiligen Kantone. Schweizweit haben BESA und RAI-RUG mit jeweils 42 Prozent – gemessen an der Anzahl Pflegetage – deutlich grössere Marktanteile als PLAISIR (16 Prozent), welches ausschliesslich in der französischsprachigen Schweiz zum Einsatz kommt (GE, JU, NE, VD). In anderen Kantonen kommt teilweise ausschliesslich BESA zum Einsatz (VS, GR, UR, AI, SZ, SH) respektive RAI-RUG (TI, FR, BS), oder es werden beide Systeme verwendet (alle übrigen Kantone). Die Systeme basieren auf unterschiedlichen Methoden, um den Pflegebedarf einer Person zu ermitteln. Was in der Praxis dazu führen kann, dass zwei Personen mit demselben Pflegebedarf, je nach angewendetem Prüfsystem, in unterschiedliche Bedarfsstufen eingeteilt werden. Das hat zur Folge, dass die OKP für Personen mit identischem Pflegebedarf unterschiedliche Beträge vergütet. Dies ist nicht nur eine Ungleichbehandlung der Heimbewohnerinnen und -bewohner, sondern widerspricht dem gesetzlichen Auftrag, wonach sämtliche OKP-pflichtigen Leistungen nicht nur wirksam und zweckmässig, sondern auch wirtschaftlich zu erbringen sind. Denn ein höherer ausgewiesener Bedarf in Minuten bedeutet, dass dieselbe Leistung – mit einem anderen System gemessen – in kürzerer Zeit erbracht werden könnte.

Nicht nur eine Frage der Patientenstruktur

santésuisse hat die Verteilung der Pflegeintensitätsstufe – mit den damit einhergehenden unterschiedlichen Kostenfolgen für die Leistungsträger – in den einzelnen Kantonen analysiert (Grafik 2). Und kommt zu teilweise erstaunlichen Erkenntnissen. In den Kantonen, die ausschliesslich mit dem Einstufungssystem BESA arbeiten, weist der Grossteil der Patientinnen und Patienten einen Pflegebedarf von weniger als 120 Minuten pro Tag auf, ausgenommen im Kanton Wallis. Bei denjenigen Kantonen, die RAI-RUG für die Einstufung benutzen, ist die Verteilung auf die Pflegestufen breiter gestreut. In der Westschweiz wiederum wird mit PLAISIR ein sehr grosser Anteil der Patienten in die höchste Pflegestufe eingeteilt und verursacht entsprechend hohe Kosten. Ein Erklärungsversuch für diese Besonderheiten könnte in der unterschiedlichen Demografie und Patientenstruktur der einzelnen Kantone liegen. So ist denkbar, dass ein höheres durchschnittliches Eintrittsalter ins Pflegeheim – und in der Folge ein meist höherer Pflegebedarf – die Einstufung beein- flusst. Dem widerspricht die Tatsache, dass die «PLAISIR-Kantone» Jura und Genf mit gut 83,5 Jahren zwar das höchste durchschnittliche Eintrittsalter aufweisen, mit Waadt und Neuenburg mit 80 Jahren aber auch das tiefste. Ein weiterer Erklärungsversuch: Der höchste Pflegebedarf fällt in den letzten Lebensjahren an. Es könnte somit sein, dass Pflegeheime mit einem hohen Pflegeindex überdurchschnittlich viele Bewohnerinnen und Bewohner mit einer kurzen Aufenthaltszeit, jedoch hohem Pflegebedarf betreuen. Die Auswertung zeigt allerdings, dass Kantone mit hohen Pflegekosten keine systematisch tiefere Aufenthaltsdauer verzeichnen.

Sparpotenzial: 200 Millionen Franken

Die santésuisse-Datenanalyse führt somit unweigerlich zur Frage nach dem Einfluss der unterschiedlichen Methoden zur Ermittlung des Pflegebedarfs auf die KVG-pflichtigen Kosten pro Pflegetag. Die obenstehende Tabelle zeigt den Index der Pflegeintensität in Pflegeheimen, aufgeteilt auf die drei gängigen Bedarfsermittlungssysteme. Fazit: Würden alle Kantone BESA einführen – oder die beiden anderen Instrumente auf das Niveau von BESA kalibrieren – liessen sich nicht nur der Pflegeaufwand aller Heimbewohner identisch beurteilen, sondern pro Jahr Kosten von gut 200 Millionen Franken einsparen. Bleibt die Frage, weshalb eine gerechte und kostensparende Harmonisierung der Bedarfsabklärungssysteme – sie wurde unter Federführung der Gesundheitsdirektorenkonferenz und später durch das Bundesamt für Gesundheit schon mehrfach in Angriff genommen – seit Jahren nicht vom Fleck kommt. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Abgesehen vom administrativen und finanziellen Aufwand, den eine Sys-temharmonisierung mit sich brächte, haben insbesondere die mit PLAISIR arbeitenden Pflegeheime keinen Anreiz, auf ein Bedarfserfassungssystem zu wechseln, das eine höhere Arbeitsproduktivität erfordert, im Endeffekt jedoch weniger Einnahmen generiert. Kommt hinzu, dass viele Kantone in ihrer Rolle als Restfinanzierer kaum ein Interesse an tieferen Beiträgen durch die Krankenversicherer haben, weil sie allfällige Defizite decken müssten.

Parlament macht Druck

Wie weiter? Für santésuisse steht ausser Frage, dass ein gesamtschweizerisch einheitliches System zur Ermittlung des Pflegebedarfs ein Gebot der Stunde ist. Die Verantwortlichkeit hierfür ist klar: Gemäss Krankenversicherungsgesetz, Art. 25a, Abs. 3, hat der Bundesrat das Verfahren der Bedarfsermittlung zu regeln. Druck kommt diesbezüglich auch aus dem Parlament. Nachdem in den vergangenen Jahren diverse parlamentarische Vorstösse mehr oder weniger ergebnislos im Sand verlaufen sind, fordert eine im Dezember 2019 eingereichte Motion eine «sorgfältige Einstufung beim Pflegebedarf statt kantonalem Wildwuchs und systematischer Ungleichbehandlung». Darin wird der Bundesrat eingeladen «die rechtlichen Grundlagen derart anzupassen, dass der Pflegebedarf zulasten der Krankenversicherung innert zwei Jahren nur noch mit einem ‹Bundesinstrument› zugelassen wird». Die parlamentarische Debatte hierzu steht noch aus. Fakt ist: Werden die Spielregeln punkto Pflegebedarfsermittlung neu, einheitlich und KVG-konform definiert, profitieren die Patientinnen und Patienten in den Pflegeheimen, weil die heutige Ungleichbehandlung dannzumal vom Tisch sein wird. Und hoffentlich auch die Prämienzahlenden, davon ausgehend, dass heute unwirtschaftliche Anwendungen eliminiert werden.  

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