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26.03.2021

Operative Eingriffe in der Schweiz

Zahlreiche Spitäler erreichen Mindestfallzahlen nicht

Eine Studie des Krankenversicherers Groupe Mutuel zeigt: Fast die Hälfte der Krankenhäuser in der Schweiz erreichte die empfohlenen Mindestfallzahlen nicht. Damit vergibt die Schweiz die Chance für eine bessere Versorgungsqualität, für mehr Effizienz und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.

 In den Spitälern der Schweiz gelten Mindestfallzahlen für klar definierte operative Eingriffe. Sie sind ein zentraler Baustein für eine wirkungsvolle Spitalplanung. Oder sollten es zumindest sein. Denn nach wie vor tun sich die Akteure schwer, das «operative Leistungsangebot» gesamtschweizerisch oder zumindest überregional zu bündeln und Eingriffe nur in jenen Spitälern zuzulassen, wo die Ärzteteams über die notwendige Erfahrung und Routine im entsprechenden Fachgebiet verfügen. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, welche im Auftrag des Krankenversicherers Groupe Mutuel erstellt wurde und das Thema Mindestfallzahlen erstmals aus einer gesamtschweizerischen Perspektive beleuchtet.

Mehr Routine, bessere Qualität

In der medizinischen Versorgungsforschung besteht der Konsens, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Anzahl der behandelten Fälle und den erreichten Ergebnissen: Operiert ein erfahrenes Chirurgenteam, sind die Patientinnen und Patienten tendenziell von weniger Komplikationen betroffen. Wobei es nicht allein die Fallzahl im engeren Sinne ist, welche über die Qualität entscheidet. Selbst bei einer vergleichbaren Komplikationsrate von Spitälern unterhalb und oberhalb der Mindestfallzahlen sterben tendenziell weniger Patienten in grossen Spitälern, weil dort mit allfälligen Komplikationen aufgrund der vorhandenen Infrastruktur besser umgegangen werden kann.

Zu tiefe Fallzahlen als Problem

Trotz dieser Erkenntnisse erreichten im Jahr 2018 mehr als 46 Prozent der Spitäler die angestrebten Mindestfallzahlen nicht. Zu diesem ernüchternden Ergebnis gelangt die Studie der Groupe Mutuel. Wie ist das möglich? «Die Schweiz ist sehr kleinräumig und verfügt dennoch über eine überdurchschnittlich hohe Spitaldichte», erklärt Studienautor Dr. Daniel Zahnd. «Dies führt dazu, dass in einigen Spitälern komplexe Eingriffe oft weniger als einmal pro Monat durchgeführt werden. Von Spezialisierung oder ‹best practice› kann somit nicht die Rede sein.»

Erkenntnisse aus ausgewählten Fachgebieten

Festgelegt werden die Mindestfallzahlen nach der Methode der Spitalplanungs-Leistungsgruppen (SPLG). Analysiert man den Umsetzungsgrad gemäss SPLG in den einzelnen Kantonen, zeigt sich kein einheitliches Bild. Auch deshalb, weil es in vielen Fällen den Spitälern überlassen ist, ihre Daten standortbezogen oder über die gesamte Spitalgruppe hinweg summiert zu erfassen. Dennoch lassen sich interessante Muster erkennen: Insbesondere in den Bereichen Herz, Gefässe und Kardiologie zeigen sich in Spitälern, welche die Mindestfallzahlen nicht erreichen, ausgesprochen kleine Fallzahlen. Einige Kliniken kommen gerade einmal auf vier Eingriffe pro Jahr. Demgegenüber gibt es aber auch Krankenhäuser, die jährlich mehrere hundert Fälle behandeln. Entsprechend kann man davon ausgehen, dass sich die Prozesse und Abläufe – und die Qualität? – stark unterscheiden. Diskrepanzen zeigen sich auch in der onkologischen Versorgung, wo sich zahlreiche Institutionen weit unterhalb der Mindestfallzahlen bewegen. Aber auch in anderen Fachbereichen weisen die Fallzahl-analysen punkto Versorgungsqualität, Effizienz und Wirtschaftlichkeit auf ein grosses Optimierungspotenzial hin.

Nachfolgend einige Beispiele:

Dermatologische Onkologie Beinahe 70 Prozent der Spitäler behandeln ihre Patienten unterhalb der gegebenen Mindestfallzahl von 10 Fällen pro Jahr. Betrachtet man demgegenüber die Anzahl der in diesen Spitälern behandelten Personen, so sind dies 10,4 Prozent der gesamten Patientenpopulation. In absoluten Zahlen: 128 Patienten, die statt in einem «peripheren» in einem «zentraleren » Spital behandelt werden müssten, um das Konzept der Mindestfallzahl umzusetzen.

Schild-und Nebenschilddrüsenchirurgie Die Verteilung der Fallzahlen zeigt, dass etwa ein Viertel der Spitäler unterhalb der gegebenen Mindestfallzahlen (10 Fälle) behandelt. Im Durchschnitt betreuten diese Kliniken 2018 nur gerade vier Patienten. Spezialisierte Neurochirurgie Beinahe 70 Prozent der Spitäler erreichen die Mindestfallzahlen nicht. Sie erbringen diese Leistungen für durchschnittlich drei Patientinnen und Patienten pro Jahr. Spezialisierte Wirbelsäulenchirurgie Obwohl es sich um spezialisierte orthopädische bzw. neurochirurgische Operationen handelt, wurde die Mindestfallzahl auf nur 10 Eingriffe pro Jahr festgelegt. Von 63 Kliniken, welche diese Behandlungen durchführen, erreichen knapp ein Drittel diesen Wert nicht.

Gynäkologische Tumore Die Mehrheit der Spitäler – beinahe 60 Prozent – erreicht die geforderte Mindestfallzahl von 20 Operationen pro Jahr nicht.

Orthopädie Orthopädische Eingriffe gehören zahlenmässig zu den Spitzenreitern in den Schweizer Spitälern. Jeweils rund 90 Kliniken führen Knie- und Hüftgelenkersatz- Eingriffe durch. Die Mindestfallzahlen werden von rund 80 Prozent der Spitäler erreicht.

Bündelung des Angebots würde helfen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Jahr 2018 gut 46 Prozent der Spitäler die geforderten Mindestfallzahlen verpasst haben, wobei in diesen Institutionen nur gerade sieben Prozent des Patientenkollektivs – in absoluten Zahlen rund 3200 Patientinnen und Patienten – behandelt wurden. Was den Schluss zulässt, dass einerseits das Reformpotenzial auf Seiten der Leistungserbringer hoch ist und andererseits eine wirksame Bündelung des Angebots sehr gut möglich wäre – mit nur marginalen Auswirkungen auf die Patientenströme. «Angesichts der bestehenden gut ausgebauten Kapazitäten würde es über alles gesehen keine grösseren Probleme bereiten, diese Patienten in Häusern mit höheren Fallzahlen unterzubringen », ist Studienleiter Dr. Daniel Zahnd überzeugt. «Es käme kaum zu Überlastungen, nicht zuletzt dank der Planbarkeit vieler Eingriffe.» Dennoch sind überregionale Spitalplanungen nach wie vor die Ausnahme oder befinden sich in einem frühen Stadium. Begünstigt wird dieser Fakt durch die vom Gesetzgeber vorgesehene freie Spitalwahl und dem damit verbundenen gewollten Wettbewerb unter den zahlreichen Leistungserbringern. Entsprechend tun sich viele Kantone schwer, bei der Festlegung ihrer Spitallisten eine restriktive Rolle zu übernehmen und bezüglich Mindestfallzahlen Vorgaben zu machen. Nicht zuletzt fördert die nach wie vor unbefriedigende Mehrfachrolle der Kantone als Regulator, Finanzierer und Besitzer von Spitälern diese Art von «Heimatschutz» und steht dem geforderten Blick über die Kantonsgrenzen hinweg im Weg.

 

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