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Versorgungsengpässe in der Arzneimittelversorgung
Versorgungslücken «Made in Switzerland»
Engpässe bei Impfstoffen oder Lieferunterbrüche bei Krebsmedikamenten sorgen derzeit in der Schweiz für Schlagzeilen, sind aber eigentlich ein weltweites Problem. Eigentlich, denn es gibt durchaus Faktoren «Made in Switzerland», die das Problem hierzulande verschärfen. Von einem Versorgungsnotstand kann allerdings nicht die Rede sein.
Wer den entsprechenden News-Dienst abonniert hat, bekommt vom Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) mehrmals pro Woche elektronisch Post. Verschickt wird die offizielle Liste der lebenswichtigen Medikamente, die aktuell von einem Versorgungsengpass betroffen sind. Das Dokument empfiehlt Behandlungsalternativen und informiert über bereits ergriffene Massnahmen zur Engpassbeseitigung. Ende Oktober 2019 enthielt die Liste 46 Medikamente und 12 Impfstoffe. Wie beunruhigend ist diese Zahl? Was bedeuten Versorgungsengpässe für Patientinnen und Patienten, welche auf diese Arzneimittel zwingend angewiesen sind, und wo gibt es Handlungsbedarf?
Engpässe ja, Versorgungskrise nein
Abgesehen von verschiedenen Impfstoffen und bestimmten Antibiotika sind derzeit insbesondere Krebsmedikamente von Lieferunterbrüchen betroffen. Dabei handelt es sich um Indikationen, für die es nicht in jedem Fall passende Medikations-Alternativen gibt, oder aber, bei denen eine Alternativmedikation das Patientenwohl tangieren könnte. Kommt hinzu, dass Lieferengpässe und längere Lieferunterbrüche in öffentlichen Apotheken wie auch in Spitalapotheken zusätzlichen Aufwand verursachen, indem Ersatz organisiert und allenfalls importiert werden muss. Von einem eigentlichen Notstand in der Medikamentenversorgung zu sprechen, ist allerdings viel zu weit gegriffen. So erscheinen auf der Versorgungsliste des BWL auch Arzneimittel, die kaum mehr nachgefragt werden, weil es zwischenzeitlich wirkungsvollere Alternativen gibt. Oder aber die Engpässe sind kurzfristiger Natur und lassen sich umgehen, indem auf Präparate anderer Hersteller ausgewichen oder eine andere Darreichungsform verschrieben wird. Dennoch lässt es aufhorchen, wenn für gewisse Impfstoffe und Medikamente zur Überbrückung der Versorgungsengpässe die Pflichtlager des Bundes angegangen werden müssen.
Komplexe Ursachen
Lieferengpässe im Arzneimittelbereich sind ein weltweites Problem. Als Folge der Globalisierung – und Gewinnmaximierung der Hersteller – werden die Produktionsstätten auf wenige Standorte, oftmals in Billiglohnländern, konzentriert. Zudem werden bestimmte Wirk- oder Hilfsstoffe nur noch von einem einzigen Hersteller produziert. Gibt es einen Produktionsunterbruch – aus geopolitischen oder anderen Gründen – ist auch der Herstellungsprozess der jeweiligen Medikamente unterbrochen. Des Weiteren sind Hersteller, Handel, Spitäler und Apotheken an einer knappen Lagerhaltung interessiert um Kosten zu sparen. Das Problem: Diese Justin- time-Mentalität schmälert den Handlungsspielraum, wenn es irgendwo auf der Welt zu Produktionsunterbrüchen kommt. Allerdings, und das ist nicht von der Hand zu weisen, gibt es durchaus auch Faktoren «Made in Switzerland», die ihrerseits Versorgungsengpässe zur Folge haben:
- Patentgeschützte Medikamente: Das Patentrecht erlaubt es den Herstellern von neuen Medikamenten, ihre Präparate während vieler Jahre exklusiv herzustellen und zu vertreiben. So entsteht eine Monopolsituation mit hohen Preisen. Eine Schweizer Besonderheit ist, dass der Parallelimport dieser Produkte verboten ist. Bei einem Lieferengpass dürfen von den Leistungserbringern nur kleine Mengen aus dem Ausland importiert werden. Was faktisch dazu führt, dass die alleinige Verantwortung für eine ausreichende Versorgung der Schweiz beim Hersteller liegt. Hier sieht santésuisse zwei Wege zur Besserstellung der Schweizer Bevölkerung. Erstens: Systematische Parallelimporte zulassen, damit die Spitäler und andere Leistungserbringer ihre Lager mit Zukäufen aus dem Ausland aufstocken können, sobald sich Lieferengpässe abzeichnen oder sich die Nachfrage erhöht. Zweitens: Bei der Vergabe von Zulassungen, und somit dem Exklusivrecht für den Vertrieb, hat der Bund von den Herstellern vehement eine gesicherte Versorgung einzufordern. Kommt es zu systematischen Lieferengpässen, hat der Hersteller die Auflagen nicht erfüllt und es können Bussen ausgesprochen werden. So liesse sich der Druck auf den Zulassungsinhaber verstärken, grössere Lager zu halten und die Produktionskette breiter und robuster aufzustellen.
- Patentabgelaufene Medikamente: Ist das Patent eines Medikamentes abgelaufen, können auch andere Hersteller Präparate mit demselben Wirkstoff herstellen (Generika). Der Parallelimport patentabgelaufener Originalprodukte und der Import wirkstoffgleicher Generika sind in der Schweiz zwar grundsätzlich erlaubt, werden jedoch viel zu wenig genutzt. Dies, obwohl die Verkaufspreise für Generika in der Schweiz bis zu 100 Prozent über denjenigen des vergleichbaren Auslands liegen. Was wiederum zeigt, dass das Problem nicht in angeblich zu tiefen Preisen zu suchen ist. Ein gewichtiger Grund für die praktische Inexistenz von Parallelimporten sind ausserdem die hohen Zulassungshürden (Gebühren, Anforderungen an die Produktepalette, etc.) sowie die zu stark preisabhängige Vertriebsmarge. Im vergleichsweise kleinen Schweizer Markt sollten die Zulassung von Generika wie auch Parallelimporte von bereits zugelassenen Medikamenten einfacher möglich sein. Ein Abbau dieser Hindernisse hätte eine grössere Vielfalt von Anbietern und weniger Lieferengpässe zur Folge.
- Lieferengpässe entstehen auch durch tief gehaltene Warenlager. Weil die Lagerhaltung finanzielle Mittel bindet, verzichten wichtige Versorger auf grosse Lager, insbesondere von neuen, in der Regel sehr teuren Medikamenten. Dieses Verhalten ist bei allen Stufen der Vertriebskette anzutreffen.
- Das Territorialitätsprinzip verbietet es den Krankenversicherern, die Kosten für im Ausland gekaufte Leistungen und Waren zu übernehmen. Zwar haben sich einige Krankenversicherer in der Vergangenheit aufgrund der grossen Preisdifferenzen zum Ausland kulant gezeigt und von Versicherten im Ausland zu günstigeren Preisen eingekaufte Medikamente erstattet. Was ihnen vom Bundesamt für Gesundheit eine Rüge einbrachte, weil sie damit gegen das Gesetz verstossen haben. Im Falle von Lieferengpässen ist ein solches Prinzip völliger Unfug. Ein Patient sollte in diesem Fall frei sein, ein in der Schweiz nicht verfügbares Medikament im Ausland zu besorgen und eine Vergütung vom Krankenversicherer zu erhalten.
Wie weiter?
2015 hat der Bund für lebenswichtige Medikamente eine Meldepflicht eingeführt, sollte es zu Mangel oder Lieferengpässen kommen. Die Liste der Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln erlaubt seither ein gezieltes Monitoring der Situation. Gleichzeitig hat der Bundesrat das Verzeichnis derjenigen Medikamente deutlich ausgebaut, die ins Pflichtlager gehören. Kritische Situationen können so überbrückt werden. Zudem sind Hersteller und Importeure verpflichtet, für definierte Arzneimittel ein festgelegtes Lager zu halten. Dass trotz dieser Massnahmen die Sicherheit der Arzneimittelversorgung in der Schweiz nicht in allen Fällen sichergestellt werden kann, hat auch der Bundesrat erkannt und beim Bundesamt für Gesundheit einen Bericht in Auftrag gegeben, der die Zusammenhänge innerhalb der gesamten Versorgungskette aufzeigt und einen Katalog möglicher Massnahmen vorschlägt. Dieser soll im Frühjahr 2020 publiziert werden. Die Krankenversicherer ihrerseits fordern den Bund auf, die Hersteller von patentgeschützten Medikamenten in die Verantwortung zu nehmen oder Parallelimporte zuzulassen. Des Weiteren soll der Markt im Falle von patentabgelaufenen Medikamenten durch eine vereinfachte Zulassung von Generika belebt werden. Auch Parallelimporte sollten einfacher möglich sein und das Territorialitätsprinzip beim individuellen Import aufgehoben werden. Grundsätzlich müssen überlebenswichtige Produkte und Dienstleistungen stets den Menschen in Not zur Verfügung stehen. Es kann erwartet werden, dass eine der profitabelsten Branchen der Welt die Versorgungssicherheit eines Landes in jedem Fall gewährleistet. Kann der freie Markt dies nicht garantieren, braucht es strengere Vorschriften. Keinesfalls jedoch noch höhere Medikamentenpreise in der Schweiz.