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08.01.2020

5. Novemberkongress Gesundheit 2020+

«Wir alle wissen, was zu tun ist!»

Der Ruf nach Reformen im Gesundheitswesen ist nicht zu überhören. Wer aber sitzt hierfür im «Driver’s seat»? Die Politiker? Die Ökonomen und die  Leistungserbringer? Die Krankenversicherer? Und welche Rolle spielt beim Aufbruch zu neuen Ufern die Digitalisierung? Drei Expertenmeinungen.

Reformen im Gesundheitswesen haben es schwer. Oder, um santésuisse-Vizepräsident Dr. Thomas Grichting aus seinem Einstiegsreferat zu zitieren: «Reformen sind ein zähes Geschäft». Umso dringender ist es, dass wir uns jetzt für sinnvolle Massnahmen zugunsten der Prämienzahler und der Patienten  einsetzen. Tun wir es nicht, können wir uns unser Gesundheitssystem in dieser Form schon bald nicht mehr leisten. Und das wiederum wäre ein grosser Verlust. santésuisse hat dem «zähen Geschäft» mit den Reformen seinen diesjährigen Novemberkongress gewidmet. Mit der Frage «Wie können Reformen im  Gesundheitswesen gelingen?» haben sich Ende Oktober in Bern drei kompetente Referenten auseinandergesetzt: Demnach braucht es mehr Digitalisierung, mehr wettbewerbliche Freiheiten – keinesfalls jedoch einen Leistungsabbau , alleine schon deshalb, weil ein soclher von der Bevölkerung nicht mitgetragen würde. Für seine Leserinnen und Leser hat infosantésuisse einige zentrale Aussagen aus den jeweiligen Referaten zusammengefasst. Und kommt zum  Schluss, um noch einmal Dr. Thomas Grichting zu zitieren: «Wir alle wissen jetzt, was zu tun ist. Also tun wir es!»

IST DIE GESUNDHEITSPOLITIK REFORMIERBAR? EIN BLICK AUF DEN ZUSTAND DER SCHWEIZER POLITIK NACH DEN NATIONALRATSWAHLEN 2019

Claude Longchamp, Verwaltungsratspräsident gfs.bern

Die Wucht der grünen Welle bei den Nationalratswahlen 2019 hat überrascht. Und sie führt unweigerlich zur Frage, ob die jetzt wesentlich «linkere» und «grünere» grosse Kammer in der Lage sein wird, Reformen im Gesundheitssystem zum Durchbruch zu verhelfen. Um sie zu beantworten, braucht es einen Blick auf die gesundheitspolitische Grosswetterlage.

Reform als Generationenprojekt

Zusammen mit dem Klimawandel waren die Krankenkassenprämien aus Sicht der Wählenden ein zentrales Thema, gefolgt von der Europafrage sowie der Zukunft unserer Altersvorsorge. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind auf das Thema Gesundheitskosten seit längerem sensibilisiert und erwarten von ihren Vertretern im Parlament Reformvorschläge. Wobei – dies macht der gfs-Gesundheitsmonitor 2019 deutlich – die Reformbereitschaft rasch an die Grenzen stösst, wenn die eigene Komfortzone betroffen ist. So zeigt die Befragung von 1200 Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern, dass im Bereich der Gesundheitsversorgung die Werte Qualität und Quantität eine zentrale Rolle spielen. Anders ausgedrückt: Jede Form der Kosteneinsparung darf die Qualität der Leistungen in der Grundversicherung nicht tangieren, zumindest in den Augen der Versicherten. Und – wen überraschts – ein Qualitätsabbau bei  gleichbleibenden Kosten ist gänzlich unerwünscht. Ähnliche Aussagen gibt es zum Thema Quantität. Auch sie wird in der Gesundheitsversorgung höher gewichtet als die damit einhergehenden Kosten. Die Rationierung unnötiger Leistungen wird nur akzeptiert, wenn diese nicht eine Verschlechteder  Versorgung mit sich bringt. Diese nicht unbescheidenen Werthaltungen machen deutlich, dass Volksinitiativen, die in der Regel Partikularprobleme mit partikularen Lösungsansätzen zur Abstimmung bringen, kaum geeignet sind, um das Gesamtsystem –immerhin ein 80-Milliarden-Markt – nachhaltig zu   reformieren. Sie machen auch deutlich, dass weitreichende Systemanpassungen nicht das Projekt einer Legislatur sein können, sondern einer ganzen  Generation. Wobei die Leistungserbringer zwingend den «Driver’s seat» besetzen müssen, weil der Effizienzsteigerung bei der Leistungserbringung eine zentrale Rolle zukommt wenn es darum geht, die Kosten- und Preisspirale nachhaltig zu brechen. Der Gesetzgeber wiederum hat in seiner Rolle als Regulator auf der Rückbank Platz zu nehmen und für Rahmenbedingungen zu sorgen, die sinnvolle Reformen überhaupt zulassen.

Initiativen mit Schwächen

Zwei Parteien reagieren auf diese Herausforderung je mit einer Volksinitiative. Die CVP will mit einer Kostenbremse für tiefere Prämien sorgen, indem Bund und Kantone eingreifen sollen, wenn die Gesundheitskosten im Vergleich zur Lohnentwicklung zu stark steigen. Das Problem: Der Ruf nach mehr Staat im Gesundheitswesen ist in der Schweiz nur bedingt mehrheitsfähig. Zudem sind die Konsequenzen dieser Initiative für die Prämienzahler noch wenig konkret und schwer absehbar. Die SP wiederum fordert mit ihrer Prämien-Entlastungs-Initiative eine Deckelung der Prämienlast auf zehn Prozent des verfügbaren Haushalteinkommens. Das Problem: Die Gesundheitskosten werden dadurch nicht weniger, vielmehr verlagert sich die Belastung vom Prämienzahler hin zum Steuerzahler. Fazit: Beide Initiativen treffen zwar die Problemlage, die Lösungsansätze weisen aber in ihrer Ausgestaltung Schwächen auf und dürften es potenziell schwer haben, an der Urne eine Mehrheit für sich zu gewinnen. Und beide wären dabei in guter Gesellschaft: Bis dato sind sämtliche  Volksinitiativen, die zum Ziel hatten, unser Gesundheitssystem zumindest teilweise zu reformieren, an der Urne gescheitert.

ÖKONOMISCHE ANREIZSYSTEME UND KOSTEN IM GESUNDHEITSWESEN

Prof. Dr. Beatrix Eugster, Professorin für Volkswirtschaftslehre, Geschäftsführende Direktorin des «Center for Disability and Integration», Universität St. Gallen

Der Markt im Gesundheitswesen funktioniert nach denselben Mechanismen wie beispielsweise im Detailhandel. Das heisst, die Akteure – in diesem Fall die Patienten, die Leistungserbringer und die Krankenversicherer – reagieren grundsätzlich auf Anreize. Um die steigenden Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen, gilt es deshalb, gezielte Anreize zur Kostenreduktion einzusetzen.

Patienten machen Druck

Die Tatsache, dass die Patientinnen und Patienten nicht die wahren Kosten einer Behandlung bezahlen – und diese auch nicht kennen – weil im Hintergrund eine Versicherung greift, führt zu einer übermässigen Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. So kommt es, dass Patienten ihren Arzt vermehrt zu Leistungen drängen, die medizinisch nicht indiziert sind. Gibt dieser dem Drängen nicht nach, läuft er Gefahr, den Patienten zu verlieren. Eine amerikanische Studie zeigt, dass die zunehmende Resistenz gegen Antibiotika auch darauf zurückzuführen ist, dass diese Präparate häufig ohne Indikation abgegeben werden. Weil, so die befragten Ärzte, der Patient auf der Verschreibung «eines wirkungsvollen Medikaments» insistiert; Diagnose hin oder her. Der Arzt  nimmt hier seine «Gatekeeper»-Funktion bewusst nicht mehr wahr. Ähnlich erschreckend die Erkenntnis aus einem Experiment mit einem Medikament gegen Malaria: Beinahe 60 Prozent der Probanden liessen sich ein teures Malaria-Gegenmittel verschreiben, obwohl sie negativ auf die Krankheit getestet wurden. Der Grund: Das Medikament wurde im Test kostenlos abgegeben. Beizukommen ist diesem unnötigen, gesundheitsgefährdenden und  kostenintensiven Tun nur mit Aufklärung und allenfalls höheren Kostenbeteiligungen. Es ist zwingend, dass die Patienten wissen, wie viel eine Behandlung  oder ein Medikament kosten. Ihnen müssen die Konsequenzen ihres Handelns und ihrer Forderungen bewusst gemacht werden, ohne dabei die tatsächlich notwendige Gesundheitsversorgung zu gefährden.

Defensivmedizin als Kostentreiber

Ein Appell an die Leistungserbringer, auf unnötige Leistungen zu verzichten, ist ebenso zwingend wie wirkungslos. Denn kaum ein Arzt wird bestätigen, dass er unnötige Behandlungen vornimmt. Der Marktmechanismus spielt nämlich auch hier: Wenn ich mehr «verkaufe», verdiene ich mehr. Damit Ärzte nicht daran verdienen, wenn sie unnötige oder zu teure Leistungen verschreiben, braucht es wirkungsvolle Anreizsysteme. Studien belegen, dass die  medizinischen Ausgaben in Gruppenpraxen die mit einem Globalbudget arbeiten, im Durchschnitt bis zu fünf Prozent gesenkt werden können. Am  wirkungsvollsten erwies sich die Vorgabe eines Globalbudgets in Praxen mit wenigen Ärzten. Mit dem Modell einer «harten» Budgetobergrenze auf Gruppenebene – wird diese überschritten, werden zwischen zehn und zwanzig Prozent der Zahlungen zurückbehalten – und «weichen» Grenzen auf Ebene der einzelnen Ärztinnen und Ärzte, welche die Ausreisser nach oben und unten kompensieren, liessen sich die Behandlungskosten pro Arzt um teilweise bis zu acht Prozent senken. Neben den finanziellen Anreizen kann auch die Frage der Haftbarkeit dazu führen, dass Ärzte ihre Patienten überversorgen. So sehen sich Ärzte in Anbetracht hoher Haftungsrisiken zu einer umfassenden Absicherung ihrer Tätigkeit genötigt. Die Folge davon ist die Zunahme einer  kostspieligen «Defensivmedizin». Reduziert sich die Haftbarkeit, sinken in der Regel die Gesundheitskosten, ohne dass sich der Gesundheitszustand des Patienten verschlechtert.

Die Rolle der Versicherer

US-amerikanische Studien zeigen, dass ähnlich wie im Detailhandel, wo die Konsumenten bei intensivem Wettbewerb von tieferen Preisen profitieren, auch  in der Krankenversicherung der Wettbewerb zwischen mehreren Anbietern in einer Prämienregion zu tieferen Prämien führt. Andere amerikanische Studien verweisen darauf, dass vom Staat an die Krankenversicherer ausgerichtete Subventionen nur in Regionen mit starker Konkurrenz zu tieferen Prämien  führen. Im Übrigen sollten Versicherungen möglichst Verträge mit Leistungserbringern ausarbeiten, welche die richtigen Anreize setzen, wie zum Beispiel die erwähnten Globalbudgets für Gruppenpraxen.

WIE KANN DIE DIGITALISIERUNG DAS GESUNDHEITSWESEN BESSER UND GÜNSTIGER MACHEN?

Dr. Rainer Thiel, Geschäftsführer, Bereichsleiter Digital Health, empirica Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung, Bonn

Um es gleich vorwegzunehmen: Im Schweizer Gesundheitswesen wären dank Digitalisierung Kosteneinsparungen in Milliardenhöhe möglich. Wären, denn  derzeit bildet die Schweiz punkto Digital-Health-Nutzung, insbesondere mit der Einführung des elektronischen Patientendossiers, im europäischen Vergleich eher das Schlusslicht – allerdings in guter Gesellschaft mit Ländern wie Frankreich oder Deutschland.

Privatpraxen benötigen Anschubfinanzierung

Das elektronische Patientendossier (EPD) sorgt für mehr Patientensicherheit und spart langfristig Kosten. Diese Behauptung mit Fakten zu hinterlegen ist  allerdings schwierig, weil die Evidenzlage limitiert ist, systematische Auswertungen fehlen und die Systeme in den einzelnen Ländern zu heterogen sind, um miteinander verglichen zu werden. Dennoch gibt es sehr gute Gründe, die Digitalisierung im Gesundheitswesen als Chance zu sehen. In einer vom  Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegebenen Studie jedoch hat empirica die prognostizierten materiellen und immateriellen Kosten und Nutzen des EPD einander gegenübergestellt und quantifiziert. Und zwar pro Zielgruppe: also Arztpraxen und Hausärzte, Spitäler, Apotheken, Personal, Patienten und  Bevölkerung. Mit dem Ergebnis, dass im untersuchten Zeitraum von zwanzig Jahren den Gesamtkosten von knapp vier Milliarden Franken ein Nutzen von  rund acht Milliarden Franken gegenübersteht. Dabei resultiert der positive (monetarisierte) Nettonutzen in erster Linie auf besserer Behandlungsqualität und mehr Patientensicherheit, während die effektiven finanziellen Auswirkungen durch die relativ hohen Investitions- und Betriebskosten für die Infrastruktur negativ bleiben. Einen Sonderfall bilden hierbei die Arztpraxen. Bedingt durch die hohen Investitionsund Betriebskosten profitieren diese auch über einen längeren Zeitraum hinweg nur sehr bedingt vom EPD. Anders ausgedrückt: Ohne staatliche Regulierung und ohne Anschubfinanzierung ist in diesem Bereich mit einem Investitionsstau zu rechnen.

Schlusslicht Schweiz

Eine vertiefte Betrachtung der Digital-Health-Situation in der Schweiz erlauben die Ergebnisseaus dem «Internationales Benchmarking und Digital-Health-Index», einer qualitativen Datenerhebung in 17 Ländern. Untersucht wurden drei Hauptindikatoren: Policy und Strategie, digitale Bereitschaft sowie die tatsächliche Datennutzung. Hier belegt die Schweiz über alle Indikatoren hinweg Platz 14. Hinter ihr liegen nur noch Frankreich, Deutschland und Polen. Die Detailanalyse zeigt, dass die Schweiz zwar relativ gut dasteht in Bezug auf Strategie, Finanzierung und rechtliche Rahmenbedingungen, bei der tatsächlichen Datennutzung jedoch weit abfällt. Der für eine erfolgreiche Digitalisierung notwendige «Dreiklang» aus effektiver Strategie, politischer Führung sowie koordinierenden nationalen Institutionen funktioniert nicht oder nur bedingt.

Darum hinkt die Schweiz hinterher

Es gibt eine ganze Reihe von Gründen und Erklärungen, weshalb die Schweiz – an sich ein ausgesprochen innovatives Land – ausgerechnet bei der  Digitalisierung im Gesundheitswesen zu den Schlusslichtern gehört. Und wer jetzt davon ausgeht, der Hauptgrund hierfür sei der Föderalismus, der irrt. Ein Fakt ist, dass man es in der Schweiz bis dato versäumt hat, die Bevölkerung vom Nutzen – beispielsweise eines EPD – zu überzeugen. Während in anderen Ländern die Kommunikation des Mehrwerts der Digitalisierung als strategische Aufgabe verstanden wird und deren Nutzen im Vordergrund steht, spricht man in der Schweiz nüchtern von einem reinen Infrastrukturprojekt – und schürt gleichzeitig allfällige Ängste bezüglich Datenmissbrauch. Entsprechend ist  es nicht verwunderlich, dass der Funke nicht springt. Weder auf die Patienten noch auf die Leistungserbringer. Hinzu kommt die eher unverständliche Besonderheit, die Hausärzte von der EPD-Pflicht zu befreien. Das heisst, ein zentrales Glied in der Behandlungskette und ein enormer «Nutzenverstärker»  lässt man aussen vor. Eine weitere Besonderheit: Die Krankenversicherer werden von der Entwicklung und Verbreitung des EPD ausgeklammert.

Anreize schaffen

Der heute verfolgte Weg mit gleichzeitig staatlich von oben verordneten strategischen Zielen für Digital-Health («Top-down»-Ansatz) und von unten auf die  technische Lösung konzentrierten Aktivitäten («Bottomup»-Ansatz) vernachlässigt die Bedürfnisse der Nutzer des elektronischen Patientendossiers, der Versicherten und der Leistungserbringer. Für sie gibt es nur wenig Ansporn, die rasche Einführung des Patientendossiers einzufordern. Ohne politische und  ökonomische Anreizsysteme wird sich das elektronische Patientendossier in der Schweiz nur schwer durchsetzen können. Der bisherige nicht zielführende  Weg sollte deshalb mit einer Strategie ersetzt werden, die auf einer mittleren Ebene (Middle-out) ansetzt und die Benutzer ins Zentrum stellt. Denn  einerseits begegnet man in der Schweiz staatlichen Interventionen mit Misstrauen und verlässt sich lieber auf den freien Markt. Andererseits brauchen die  Leistungserbringer, allen voran die Ärzte in den Privatpraxen, sinnvolle Anschubfinanzierungen, denn ohne öffentliche Gelder wird das EPD nicht zum Fliegen kommen. Anschubfinanzierungen wiederum würden es erlauben, die nicht eben sinnvolle Freiwilligkeit bei den Hausärzten neu zu regeln. Nur wenn die Digitalisierung im Gesundheitswesen von allen am System beteiligten Akteuren als Chance verstanden wird, wenn Fehlanreize, die zu Leistungsausweitungen oder ineffizienten Angebotsstrukturen korrigiert werden, lässt sich der prognostizierte Nettonutzen von acht Milliarden Franken auch tatsächlich realisieren.

 

Ansprechpartner

Weiterführende Informationen

Wer sich für die vollständigen Präsentationen von Claude Longchamp, Beatrix Eugster oder Rainer Thiel interessiert, findet diese unter hier